Stolpersteine 3: Die "top down"-Illusion

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Stolpersteine 3: Die "top down"-Illusion

Johannes F. Reichert - Medienzukunft gestalten - Professionelles Changemanagement und Organisationsentwicklung zu Veränderungsprozessen in Medienunternehmen
„Beteiligen Sie Ihre Mitarbeitenden am Veränderungsprozess!“

Diese Forderung ist eigentlich zu trivial, um ihr einen eigenen Beitrag zu widmen.  
Sie gehört zum kleinen 1 x 1 der Management-Fibel.

Umso erstaunlicher, wie widerstrebend sie in der Praxis umgesetzt wird, selbst dann, wenn Kreativität und intrinsische Motivation der Mitarbeitenden eine zentrale Rolle für den Erfolg  des Unternehmens spielen, wie z. B. in Medienunternehmen: „Muss das denn wirklich sein?“

Warum ernst gemeinte Beteiligung notwendig ist

Vielleicht überzeugt sie eine der folgenden Annäherungen:
Warum ernst gemeinte Beteiligung nicht nur sinnvoll, sondern notwendig ist, wenn Sie ihren Veränderungsprozess erfolgreich gestalten wollen:

  1. Sie nutzen alle nötigen Fachkompetenzen.
  2. Sie berücksichtigen unsichtbare Abhängigkeiten innerhalb des Unternehmens.
  3. Sie nutzen psycho-soziale Dynamiken konstruktiv.
  4. Sie integrieren systemische Prozesse.



Ein Beispiel aus der Praxis

Ein Unternehmen entwickelt aus einer Marktanalyse neue strategische Ziele.
Ein  kleines Team aus dem Führungskreis erarbeitet das künftige Struktur- und  Workflow-Modell.
Bei der Vorstellung dieses „Zukunftsmodells“ wird für die Belegschaft sichtbar,  dass Vieles wenig durchdacht und unausgegoren ist, dass unsinnige Arbeitsbeziehungen entstehen, dass die Belastung der Mitarbeitenden deutlich höher sein wird.
Die folgende Umsetzung des Modells schafft über Monate Spannungen und  Reibungsverluste, weil deutlich wird, wie wenig funktional es ist – und wie wenig  Wertschätzung die Mitarbeitenden im Prozess genießen.

„Aber wir können doch so wichtige Fragen nicht den Mitarbeitern überlassen!
Wir haben doch die Verantwortung für das Unternehmen!“

Ja und Nein.



1. Die nötigen Fachkompetenzen nutzen

Meist sind es allein die Führungskräfte, die das Unternehmen in seiner  strategischen Positionierung bewerten können: Nur sie kennen Marktsituation und -entwicklung, haben Zugang zu Produktivitäts-Kennziffern, können aus der „Hubschrauber-Perspektive“ die Gesamtheit des Unternehmens bewerten.

Diese Perspektive haben die meisten Mitarbeitenden nicht. Sie orientieren sich im operativen Tagesgeschäft an konkreten Soll-Ergebnissen, organisieren ihren begrenzten Handlungsraum, streben nach verträglichen Arbeitsbedingungen.

Insofern sind Führungskräfte tatsächlich weitgehend allein in der Verantwortung für die „großen“ Fragen und die strategischen Ziele. Sie müssen aus ihrer Beobachtung und
Bewertung die zentralen Meta-Ziele definieren und sichern.

Leider führt das manchmal zu Prozess-Designs, in denen die Führungsebene die  Projektleitung übernimmt, den gesamten Prozess selbst durchplant: mit Time Line,  Aufgabenfeldern, definierten Unter-AGs mit ihrer personellen Besetzung, usw.

Wenn ein solches Projekt in die Umsetzung gehen soll, stößt es regelmäßig auf massiven  Widerstand der betroffenen Mitarbeitenden: Sie können (vielleicht) die strategische  Perspektive nachvollziehen, ihnen fehlt jedoch meist die Verbindung zu ihren konkreten  Arbeitsroutinen, ihrer Perspektive:

Not invented here“ –  also kann oder darf es nicht funktionieren.

Tatsächlich: Führungskräften auf strategischer Ebene fehlt häufig das Verständnis für  die operativen Auswirkungen ihrer Entscheidungen in den einzelnen Teams.
Welche Arbeitsbereiche sind von einer Veränderung betroffen?
Welche Auswirkungen hat das auf die vielen Einzelprozesse und das Gesamtergebnis?
Wie könnten sinnvolle Anpassungen aussehen?

  • Strategische Mitarbeitende haben hohe strategische Kompetenzen.
  • Operative Mitarbeitende haben hohe operative Kompetenzen.

Weil beide Aspekte für die Umsetzung nötig sind, müssen beide im Veränderungsprozess wirksam werden

2. Abhängigkeiten innerhalb der  Unternehmensbereiche berücksichtigen

Veränderungsprozesse sind fast immer nicht nur kompliziert, sondern komplex (mehr  zur Unterscheidung  hier).
Um diese Komplexität zu reduzieren, zerteilen Führungs- oder Projektteams die großen  Ziele in kleinere Aufgaben-Pakete für die einzelnen Bereiche, Abteilungen, Teams  („Chunking“). In allen Bereichen werden die neuen Aufgaben nun parallel umgesetzt, so  dass sie dort jeweils plausibel erscheinen.
Führt man die einzelnen Aktionen dann schließlich zusammen, entsteht häufig  Ratlosigkeit: Obwohl jeder nach bestem Wissen gehandelt hat, passen die Einzelteile  nicht zusammen. Eine aufwändige und langwierige Nachsteuerung beginnt.

Frühzeitige Einbindung der Stakeholder
Erfolgreiche Veränderungsprojekte zeichnen sich nach meiner Erfahrung heute
dadurch aus, dass die unterschiedlichen Perspektiven der Stakeholder frühzeitig im
Prozess wirksam werden.

Auf der Basis definierter Ziele und eines möglichst klaren Projektauftrags müssen die
unterschiedlichen Perspektiven aus allen Hierarchieebenen und betroffenen Bereichen des Unternehmens miteinander ins Gespräch gebracht werden.
Nur durch ein solches Zusammenspiel entstehen Lösungen, die „ökologisch“ sind - sowohl den strategischen Zielen als auch den Erfordernissen der alltäglichen Arbeit entsprechen.

Auch wenn es nicht dem Selbstbild mancher Führungskräfte entspricht:
Letztlich sind es die Mitarbeitenden, die über den langfristigen Effekt und Erfolg eines
Projekts entscheiden.

3. Psycho-soziale Dynamiken konstruktiv nutzen

Viele Projekte scheitern nach meiner Erfahrung nicht an fehlenden Ressourcen oder  schlechter Projektorganisation, sondern an der unzureichenden Berücksichtigung der  sozialen Prozesse im Unternehmen.

„Change  is pain.“

Erfreulicherweise gibt es in jeder Organisation Mitarbeiter*innen, die seit langem auf
überfällige Reformen warten und Veränderungen begrüßen.
Für die meisten aber gilt: Niemand verändert sich gerne – schon gar nicht auf Druck von
anderen.
Diese triviale Erkenntnis der Neurobiologie ist von entscheidender Bedeutung für jeden
Veränderungsprozess, vor allem, wenn er auf langjährig etablierte Strukturen trifft:
Teams mit Familiencharakter werden auseinander gerissen, der individuelle Status ist
bedroht, verlässliche Rahmenbedingungen gehen verloren, usw.

Veränderung ist immer verbunden mit Stress,
weshalb jede*r Betroffene versucht, das Ausmaß
der eigenen Veränderung zu reduzieren.

Das ist normal.

Das Ziel eines geeigneten Prozessdesigns ist deshalb nicht, die Mitarbeitenden zu den  neuen (besseren) Arbeitsweisen zu überreden oder zu zwingen. Das erzeugt noch  mehr "pain" – und damit Widerstand.

Das Ziel ist

  • die Mitarbeitenden in die Gestaltung des Prozesses einzubeziehen,
  • ihre Kompetenzen anzuerkennen,
  • ihre Bedürfnisse wahrzunehmen,
  • ihnen die Möglichkeit geben, den Prozess - im Rahmen strategischer  Zielvorgaben - mitzugestalten und sich dabei sich als wirksam zu erleben.

Damit erhöht sich die Chance, dass auch schmerzhafte Veränderungen mitgetragen  werden, signifikant.

Exkurs: Das SCARF-Modell

Der Unternehmensberater David Rock hat Erkenntnisse der Neurobiologie auf das Thema „Führung in Veränderungsprozessen“ übertragen. Nach diesem Modell bewerten Menschen externe Veränderungsimpulse intuitiv und reflexhaft als „Bedrohung“ oder „Belohnung“.

Die Kriterien für diese schnelle Bewertung:

  • Status
    Wie wichtig bin ich? Ist mein Status bedroht oder bietet die Veränderung neue  Chancen für meine Entwicklung?

  • Certainty (Sicherheit)
    Wie planbar und sicher ist meine Zukunft?
    Wie hoch ist die Unsicherheit, die im Prozess auf mich zukommt?

  • Autonomy (Autonomie)
    Was kann ich frei entscheiden und gestalten?
    Wie stark werde ich durch die Veränderung in meinen Gestaltungsmöglichkeiten  eingeschränkt?

  • Relatedness (Verbundenheit)
    Gehöre ich zum Team?
    Geht durch die Veränderung die Verbundenheit mit  meinem Team verloren?

  • Fairness (Gerechtigkeit)
    Ist der Prozess fair gestaltet?
    Werde ich gerecht behandelt?


Durch eine bewusst gestaltete (und ehrlich gemeinte) Beteiligung der Mitarbeitenden im Prozess können diese Impulse integriert und konstruktiv genutzt werden. Sie erhöht die Akzeptanz des Projekts, reduziert „Widerstand“ und steigert die Chance auf Lösungen, die auch im Alltag funktionieren.

Voraussetzungen für einen offenen Prozess sind z.B.

  • Projektgruppen werden nicht nur mit Befürwortern, sondern auch mit Skeptikern /  Kritikern des Projekts besetzt.
  • Es gibt keine „hidden agenda“, alle relevanten Themen werden offen diskutiert.
  • Unterschiedliche Bewertungen sind nicht nur geduldet, sondern explizit gewünscht.
  • Konflikte werden offen benannt und besprochen.
  • Lösungen werden gemeinsam entwickelt.  …

4. Systemische Wirkungszusammenhänge nutzen

Die Umsetzung einer Veränderungsinitiative folgt nie einer linearen Ursache-Wirkungs-Kette.  Zu vielfältig und komplex sind die dabei beteiligten Akteure, Aspekte, Interessen und Kräfte.

Organisationen sind keine Maschinen, sondern lebendige, dynamische Organismen, die sich unwillkürlich und selbstorganisiert permanent veränderten Anforderungen und Bedingungen anpassen. Ihre Prozesse können zwar durch Modelle beschrieben und über Methoden gesteuert werden, sie können aber als komplexe Systeme in ihrer Eigengesetzlichkeit nicht vollständig kontrolliert werden.

(Ein schönes Beispiel für eine vermeintlich „einfache“ Veränderung lieferte in den letzten
Jahren die Einführung von MS Teams in größeren Unternehmen: Was zunächst nur wie
eine Frage von Technik und Schulung aussah, entwickelte sich z.T. zu einem lang
andauernden Konflikt.)

Komplexität durch Beteiligung meistern
Eine Veränderung wird nur dann erfolgreich sein, wenn sie dieser Komplexität Rechnung trägt – und der Weg dazu ist, die Beteiligten bzw. Perspektiven in Kontakt und Bewegung zu
bringen.
In diesem Austausch werden die unterschiedlichen

  • Sichtweisen
  • Bedürfnisse
  • Annahmen
  • Selbstverständnisse
  • Muster
  • Kulturen
  • Wünsche
  • Beziehungen
  • Anforderungen
  • Ziele
der Stakeholder sichtbar gemacht und im Sinne der Veränderungsziele gemeinsam weiterentwickelt.

Das Gesamtsystem im Blick
Jenseits der individuellen Haltungen (siehe oben: psycho-soziale Dynamiken) wird so die
Gesamtheit der Perspektiven im System thematisiert:

  • Was ist unser gemeinsamer Zweck?
  • Wozu gibt es uns?
  • Welche Haltungen brauchen wir dafür?
  • Wer trägt welche Verantwortung?
  • Welche Strukturen sind demnach sinnvoll?
  • Was ist die Aufgabe von Führung in verschiedenen Ebenen?
  • Von welchem Menschenbild wollen wir uns leiten lassen?
  • Welche Arbeitsweisen brauchen wir?

In solchen Prozessen werden „Wirklichkeitsgewohnheiten“ und „Sinnerzählungen“ hinterfragt, „dysfunktionale Zusammenspiele“ sichtbar gemacht, neue „Verstehensprozesse“ und „Sinnattraktoren“ angeregt, gemeinsame „Visionen und Organisationsidentitäten“ entwickelt.

(nach B. Schmid / A. Messmer: Systemische Personal-, Organisations- und Kulturentwicklung, 2009)

Oder etwas einfacher formuliert:

Die Beteiligten entwickeln ein neues,
vertieftes Verständnis der
Organisation und ihres Beitrags dazu.

Fazit: Tragfähige Lösungen durch ernsthafte Beteiligung

Nicht jede Veränderungsinitiative braucht einen aufwändigen und tief gehenden Prozess.
Aber dort, wo Mitarbeitenden ernsthaft Verantwortung übergeben wird, zeigt sich, dass sie diese Verantwortung meist auch übernehmen: dass sie ernsthaft Lösungen entwickeln, die jenseits von persönlichen Interessen liegen, dass sie über persönliche Schmerzschwellen gehen und die Interessen der Organisation stärken.

Und damit sind die so entwickelten Lösungen deutlich tragfähiger als „verordnete“ Vorgaben.


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